Gedanken eines Bischofs
Bischof Dr. Werner Thissen predigte im Rahmen der Radiosendung „Kirche im WDR“
mehrmals über die Weltausstellung in Hannover. In einer der Predigten beschreibt
er seine Beobachtungen und Erlebnisse im Christuspavillon. Er läßt sich dabei von
Psalm 8 leiten, der im Pavillon an allen Tagen vorgebetet wurde. Dr. Thissen war
zur Expo-Zeit Weihbischof des Bistums Münster. Heute ist er der Erzbischof von Hamburg.
Textveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Predigt im WDR
Liebe Hörerin, lieber Hörer. „Daß es so etwas hier auch gibt!“ Die junge
Frau, die mit mir den Christuspavillon der Expo verläßt, ist begeistert. Endlich mal kein
Videogeflimmer. Endlich mal kein Musikgedröhne. Endlich mal kein Weiterhasten von einer
Attraktion zur anderen. Statt dessen ein klarer, übersichtlicher Raum mit Kreuz und
Altar als Mitte. Die Sitzgelegenheiten und die Stille laden ein zum Entspannen.
Äußerlich und innerlich. Erster Eindruck: Hier geht es menschlich zu. Hier geht es
nicht allgemein und abstrakt um das Thema Mensch. Nicht um den Menschen als
Gesundheitsobjekt, als Wirtschaftfaktor, als Werbeadressat. Hier geht es um mich.
„Was ist der Mensch, daß du an ihn denkst?“ (Psalm 8). Behutsam und doch
eindringlich wird ein Psalm vorgelesen. Jede Stunde neu. Die Stimme kommt nicht vom
Band, sondern von einem leibhaftigen Menschen, mit dem man hinterher reden kann. Woher
komme ich, wohin gehe ich, wie steht es jetzt um mich? In die sich anschließende Stille
tropfen die Klänge eines Saxophons. Der Spieler steht an der seitlichen Wand, nicht
im Zentrum. Im Zentrum steht der einzelne Mensch mit seinen Fragen und mit seinen Wünschen.
Auch auf dem Weg durch den Kreuzgang, der den Hauptraum des Christuspavillons
auf der Expo umgibt, begleitet mich die Frage aus dem Psalm „Was ist der Mensch?“
Die Fensterquadrate des Kreuzgangs sind ausgefüllt mit dem, was Menschen gebrauchen:
Bambusstangen und Kunststoffschläuche, Mohnkapseln und Einwegspritzen, Kugelschreiber
und Fieberthermometer.
Ich komme an einem Tisch vorbei, auf dem eine große Schale mit Brot steht. In Gedanken
protestiere ich schon: So sollte man nicht mit Brot umgehen. Brot ist zum Essen da.
„Sie können gerne zugreifen, es kommt täglich frisch“, werde ich angesprochen. Wieder
die wohltuende Erfahrung, daß ich nicht für die Ausstellung da bin. Sondern die
Ausstellung ist für mich da. Nicht um mich einzufangen. Sondern um mich loszulösen
von den vielen mir aufgeschwätzten Bedürfnissen. Ein Stück Brot. Nicht mehr. Aber
auch nicht weniger.
Die Stufen hinunter führen in die Krypta, den Raum der Stille. Gedämpftes Licht.
Der Sand auf dem Boden, der romanische Taufstein und die byzantinische Christusikone
vermitteln den Eindruck: Hier ist man nahe am Ursprung, am Kern der christlichen
Botschaft. Die Stille tut gut.
Drei junge Leute sorgen dafür, daß wir zugleich mitten in unserer Zeit sind.
Sie kommen die Treppe hinuntergestürmt wie auf Schatzsuche. Eine hat ihr Handy am
Ohr: „Hallo Julia, wo seid ihr? Wir sind in einem alten Keller gelandet, alles voll
Sand, super cool.“ Dann erst merken die drei, daß auch andere Menschen in dem Raum
sind, die schweigend dasitzen. Mit einem halblauten „Das gibts doch nicht!“ machen
die drei wieder kehrt die Treppe hinauf. Ob sie uns für Steinzeitmenschen gehalten
haben oder für Marsmenschen?
Was ist der Mensch? Im Themenpark „Gesundheit“ ist das keine Frage.
„Du bist Chemie, du bist Chemie“, hämmert es auf uns ein. „Deshalb
sagt man ja auch über den Kontakt zwischen Menschen: Die Chemie muß stimmen.“
„Sagen wir lieber, die Kasse muß stimmen“, witzelt jemand. Keine Frage,
wer hier die Sponsoren sind.
Was ist der Mensch? Es gibt viele zukunftsweisende Antworten auf der Expo. Aber
alle Antworten bleiben Teilantworten, oftmals faszinierende Teilantworten, solange
der Mensch nicht in seiner Beziehung zu Gott in den Blick kommt. „Was
ist der Mensch, daß du, Gott, an ihn denkst, des Menschen Kind, daß du dich
seiner annimmst?“
Es spricht mich an, daß sich auf der Expo nicht nur die Chemiekonzerne
meiner annehmen und die vielen anderen, die mich als Wirtschaftsfaktor sehen.
Daß die Frage nach Gott auch auf der Expo lebendig ist. Daß es so etwas hier
auch gibt. Ob die drei jungen Leute, die mit ihren Handys ahnungslos den Raum der
Stille stürmten, das auch finden?
© Dr. Werner Thissen, Münster 2000
Aus der Radioandacht „Kirche im WDR“ vom 5. September 2000
Nach oben |